Völkerwanderung im Meer - zwischen Kalt und Warm
Nationalpark-Themenjahr Artenvielfalt
Als vor 1500 Jahren das römische Reich kollabierte, wanderten Mitteleuropas Völker der Sonne entgegen nach Süden. Als vor etwa 30 Jahren die Meereserwärmung einsetzte, begann die Wanderung von Südeuropas Meerestieren nach Norden. Meeräsche, Plattfußkrabbe und Ottermuschel erschienen in warmen Sommern und verschwanden zunächst in kalten Wintern wieder, ehe sie sich dauerhaft im Wattenmeer ansiedelten.
Im Prinzip ist diese Zuwanderung südlicher Meerestiere durch den Ärmelkanal nichts Neues. Seit zwei Millionen Jahren, das ganze Eiszeitalter hindurch, hat es mit dem etwa zehnmal erfolgenden Wechsel von Warm- und Kaltzeiten große Hin- und Rückwanderungen in den europäischen Küstengewässern gegeben. Während der Eiszeiten lag das flache Nordseebecken trocken und beherbergte Rentiere und Mammuts. In den Warmzeiten füllte die Nordsee sich dann wieder mit Wasser und Meerestieren. Unsere heutigen Arten der gemäßigten Klimate überdauerten die Kaltzeiten im Mittelmeer und an Afrikas Küsten und breiteten sich danach wieder nordwärts aus.
Im Zuge dieser wiederholten Wanderungen sind sich vermutlich alle Arten der europäischen Küsten schon einmal begegnet. Dabei haben sie sich gegenseitig auf die Jagdstrategien und Krankheitserreger ihrer „Nachbarn“ einstellen können. Deshalb fügen sich südliche Arten, die nun mit der Meereserwärmung in Nordsee und Wattenmeer einwandern, unauffällig in das Ökosystem unserer Küstengewässer ein. Massenvermehrungen, wie sie für durch den Menschen eingeschleppte Exoten aus fernen Meeresgebieten typisch sind, unterbleiben. Auch kleine Katastrophen wie die weitgehende Verdrängung des heimischen Einsiedlerkrebses durch den aus Nordamerika eingeschleppten Langarm-Einsiedlerkrebs erfolgen bei der Zuwanderung südeuropäischer Arten nicht. Erst jüngst hat der Diogenes-Einsiedler das Wattenmeer besiedelt und sich in einer eigenen ökologischen Nische an den Brandungsstränden etabliert. Er ist eine Bereicherung, aber keine ernste Konkurrenz für den Nordsee-Einsiedlerkrebs.
Mit der Zuwanderung südlicher Arten ist auch weiterhin zu rechnen. Fische wandern besonders schnell und können teilweise auch vor kalten Wintern zurück nach Süden fliehen. Wolfsbarsch, Dorade, Ährenfisch, Meerbarbe und Sardelle sind Beispiele für diese Artengruppe. Langsame Wanderer wie Muscheln, Würmer und Krebse, die sich als Larven im Plankton ausbreiten, sind weniger schnell im Vormarsch und erleiden in harten Frostwintern schwere Rückschläge. Erwartbare Zuwanderer sind neben den schon genannten Arten die Samtkrabbe an Steinufern, die Zierliche Pfeffermuschel im Schlickwatt, die Erdbeeranemone auf Felsen und die Turmschnecke in Sandböden. Auch Mittelmeerseepocke, Große und Goldene Teppichmuschel, Zwiebelmuscheln und verschiedene Algen dürften bereits in den Startlöchern hocken, um die Nordseeküste zu besiedeln. Die Neugier auf das Erscheinen neuer Arten an unseren Küsten ist eine kleine Freude in der großen Sorge um die Folgen des von uns verursachten Klimawandels.
Übrigens: Mit dem Strandfunde-Internetportal BeachExplorer können naturinteressierte Menschen auch mit Zufallsbeobachtungen dieser und weiterer Arten, dazu beitragen, die gerade ablaufenden Veränderungen der Lebensgemeinschaften im Wattenmeer genauer zu dokumentieren.