Die Unterwasserwelt des Wattenmeers - Nationalpark-Themenjahr 2020
Die Unterwasserwelt des Wattenmeers ist das Jahresthema 2020 des Nationalparks. In der Zeitschrift "wattenmeer" begleiten wir es wieder mit mehreren Artikeln. Zusätzlich stellen wir interessante Lebewesen hier auf der Webseite als Tier und oder Pflanze des Monats vor.
Die fehlenden Arten des Wattenmeers
Der genauere Blick in die Tiefen der Wattrinnen und der angrenzenden Nordsee ist sehr sinnvoll, denn die Artenvielfalt könnte hier weit größer sein, als sie es heute ist. Das Wattenmeer hat jeden nur vorstellbaren Schutzstatus: Naturschutzgebiet, Biosphärenreservat, Nationalpark, EU-Vogelschutz- und FFH-Gebiet, Ramsar-Vogelschutzgebiet, trilaterales Schutzgebiet und Weltnaturerbe. Blickt man jedoch unter die Wasseroberfläche, werden enorme Defizite sichtbar. Denn das Wattenmeer gehört zusammen mit der Ostsee und der Adria zu den am stärksten beeinträchtigten Flussmündungs- und Küsten-Ökosystemen weltweit.
Große Defizite
Ein für stark übernutzte Meeresgebiete typisches Grundmuster zeigt sich auch im Wattenmeer: Der obere Teil der ursprünglichen „Nahrungspyramide“ mit großen, räuberischen Arten ist weitgehend verschwunden. Jahrhundertelange Überfischung und Bejagung haben alle größeren Wale wie den Nordkaper, den Grauwal und den Tümmler ausgerottet. Nur der Schweinswal ist uns geblieben. Alle großen und langlebigen Fischarten wie der Europäische Stör, der Thunfisch, fünf Haiarten und bis zu zehn Rochenarten fehlen in der südlichen Nordsee und im Watt. Die heute noch vorhandenen Arten erreichen wegen des enormen Fischereidrucks nur einen Bruchteil ihrer natürlichen Größe. Wer weiß noch, dass Schollen und andere Plattfische früher in der Nordsee einen Meter groß wurden oder dass der Kabeljau bis zu1,8 Meter erreichte? Ebenfalls verschwunden sind riffbildende Bodentiere wie Europäische Auster, Sandkoralle und Rossmuschel. Als letzte echte lebende „Riffe“ sind seit den 1990er-Jahren auch die natürlichen Miesmuschelbänke trotz des Schutzes im Nationalpark um über 90 Prozent zurückgegangen.
Langlebige und empfindliche Fische und Riffe fehlen
Die Novellierung des Schleswig-Holsteinischen Nationalparkgesetzes im Jahr 1999 führte zwar zur seewärtigen Erweiterung des Nationalparks und zur Einrichtung eines Walschutzgebiets vor Sylt und Amrum, das von der Schutzstation Wattenmeer angeregt war. Der dringende Rat von Wissenschaft und Naturschutz, mehrere große nutzungsfreie Zonen einzurichten, die alle Lebensraumtypen des Wattenmeeres umfassen, wurde auf Druck der Fischereilobby jedoch nicht umgesetzt. Die einzige damals geschaffene Nullnutzungszone östlich von Sylt umfasst nur 3 Prozent des Nationalparks und ist weitgehend funktionslos, da sie keine größeren Wattströme umfasst. Somit schützt der Nationalpark seine noch vorhandenen Meerestiere nicht und bietet keine Rückkehrchancen für die verschwundenen Arten. Noch immer ist die Unterwasserwelt stark verarmt. Eigentlich müsste eine Erholung der Artenvielfalt etwa durch ausreichend große nutzungsfreie Zonen auch ein ureigenes Interesse der Fischerei sein. Konnten doch frühere Fischer aus einer ganz anderen Artenvielfalt schöpfen. Das Wissen über einst florierende Fischereien auf Rochen, Stör, Europäische Auster oder Seemoos ist bei den Fischern aber offenbar verloren gegangen – und damit auch ein Interesse, sich aktiv für die Rückkehr dieser Arten einzusetzen. Mit Garnele und Miesmuschel werden heute nur noch zwei kleine, kurzlebige Arten am untersten Ende der Nahrungskette genutzt. Das Wattenmeer mit seinen Fischern ist wie ein Wald mit Jägern, die sich mit der Jagd auf Mäuse und Kaninchen begnügen, weil Bären, Hirsche, Rehe und Wildschweine ausgerottet sind und niemand sich bemüht, ihnen die Rückkehr zu ermöglichen.
Neue Chance für ursprüngliche Arten?
Für einige verschwundene Arten gibt es von Naturschutzseite erste Versuche, ihnen im Wattenmeer wieder eine Chance zu geben. Den Versuch wäre es wert. Das Beispiel der im Mittelalter im Wattenmeer ausgerotteten Kegelrobbe zeigt, dass eine Erholung verschwundener Bestände manchmal in kurzer Zeit möglich ist. Wurden um 1990 erste einzelne Jungtiere vor Amrum festgestellt, sind heute in der Deutschen Bucht 15 Prozent aller Robben wieder Kegelrobben. Allerdings müssen für die Bestandserholung auch schädliche Faktoren beseitigt sein. Bei den Robben wurde die Jagd eingestellt. Langlebige Fische bräuchten die Chance, in Freiheit überhaupt das Fortpflanzungsalter zu erreichen und riffbildende Bodentiere Bereiche frei von Grundschleppnetzen.