Wie ist das Watt trotz Klimawandel und Meeresspiegelanstieg zu retten? - Strategie Wattenmeer 2100
Aus "wattenmeer", Heft 2015-4
Die letzten 200 Jahren markieren einen Wendepunkt in der Erdgeschichte. Erstmals seit vier Milliarden Jahren setzt eine Spezies die Treibhausgase Methan und Kohlendioxid in großem Umfang frei und hinterlässt in Bohrkernen auf dem gesamten Planeten Spuren ihrer Aktivitäten. Dieses „Menschenzeitalter“ oder Anthropozän ist gekennzeichnet durch einschneidende Eingriffe in das Weltklima, die sich auch bei uns bereits jetzt bemerkbar machen: Die durchschnittlichen Jahrestemperaturen sind in Deutschland seit 1901 um ein Grad, der mittlere Tidenhub an der deutschen Nordseeküste von 1940 – 2007 um 15 Prozent gestiegen. Modellrechnungen gehen davon aus, dass sich diese Entwicklungen in den nächsten Jahrzehnten noch verstärken werden und für das Weltnaturerbe Wattenmeer existenzbedrohend sein können.
Ziel: Erhaltung des Wattenmeeres für Natur und Mensch
Zwei Jahre lang haben deshalb unter Federführung des Landes Schleswig-Holstein staatliche Küsten- und Naturschützer gemeinsam mit NGOs wie der Schutzstation Wattenmeer eine Strategie für das Wattenmeer im Jahr 2100 erarbeitet. Ziel ist die „langfristige Erhaltung des Wattenmeeres in seinen Funktionen für Küsten- und Naturschutz“. Inseln und Halligen sollen als Siedlungsraum für den Menschen bewahrt werden und das Wattenmeer seine Aufgabe als „Energie-Umwandlungszone“ = Wellenbrecher für die Insel- und Festlandsküsten wahrnehmen können. Die ökologischen Funktionen sollen ebenso erhalten werden wie Entwicklungsmöglichkeiten für die Lebensräume mit ihren charakteristischen Arten gewährleistet bleiben.
Zwei Szenarien für die künftige Entwicklung des Klimas in der Wattenmeerregion wurden für die Entwicklung der Strategie zu Grunde gelegt.
Die optimistische Variante nimmt an, dass eine weltweite Reduzierung von Treibhausgasen erreicht werden kann. Selbst in diesem Fall würde sich der Meeresspiegel im Wattenmeer um bis zu 50 Zentimeter erhöhen. Machen wir so weiter und setzen Treibhausgase im bisherigen Umfang in die Atmosphäre frei, steigt das Meer bis 2100 um 80 Zentimeter und schon zur Mitte dieses Jahrhunderts werden wir verstärkt die Folgen unseres Handelns an der Nordseeküste zu spüren bekommen.
Deiche brechen, Zugvögel verschwinden
In diesem zweiten Szenario sagen die Prognosen vorher, dass 75 Prozent der Wattflächen verloren gehen, die stärkere Strömung Außensände erodieren lässt und Ruhe- sowie Aufzuchtplätze für Seehunde in großem Maß verschwinden. Zwergseeschwalben und Sandregenpfeifer sind ausgestorben. Wenn überhaupt Schwärme arktischer Zugvögel zu beobachten sind, werden sie nur eine schwache Ahnung der Faszination vermitteln können, die wir heute beim Anblick der sich ständig in der Form verändernden Wolken aus
Tausenden von Individuen erleben. Auch der Mensch, der seit 1.000 Jahren im nordfriesischen Watt seine Deiche baut und Häuser auf Warften errichtet, leidet unter den Folgen. Die „hydrologischen Belastungen auf Küstenhochwasserschutzbauwerke“ werden zunehmen und die „Zunahme der Versagenswahrscheinlichkeit im Belastungsfall“, wie die Autoren schreiben. Einfacher ausgedrückt: Deiche brechen, Inseldurchbrüche auf Sylt und Amrum sind wahrscheinlich und dem Leben auf den Halligen wird die Grundlage entzogen.
Den Autoren geht es nicht darum, eine tiefschwarze Untergangsvision zu verbreiten. Im Gegenteil. Nüchtern werden Fakten aufgezeigt, wie ein Erhalt des Wattenmeeres unter den negativen äußeren Rahmenbedingungen möglich wäre. Aus Küstenschutzsicht steigen die technischen Schwierigkeiten sowie Aufwand und Kosten, die Bauwerke zu unterhalten. Deiche werden zwar heute mit einer Baureserve für einen künftigen Anstieg des Meeresspiegels konstruiert. Besser wäre es, wenn das Wattenmeer trotz des Meeresspiegelanstiegs durch andere Maßnahmen in seiner Form und Größe erhalten werden könnte, so dass die Wattflächen nicht verschwinden und der technische Aufwand für den Küstenschutz im heutigen Rahmen bliebe.
Sedimente sind Schlüssel der Strategie
Schwieriger ist die Abwägung für den Naturschutz. Weltnaturerbe und Nationalpark folgen im Kern dem Gedanken „Natur Natur sein lassen“. Die Wattenmeerregion ist aber auch von über 1.000 Jahren menschlicher Aktivitäten geformt. Deiche begrenzen den Flutraum zum Hinterland; Dünen sind durch Bepflanzungen festgelegt; Lahnungen im Vorland haben großflächig beispielsweise bei der Hamburger Hallig das Wachstum von Salzwiesen gefördert.
Eingriffe in den Nationalpark Wattenmeer sollen sich darauf beschränken, der Natur den Freiraum zu verschaffen, damit sie sich nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln kann. Ganz plastisch beschreibt die Studie: „Die Natur soll entscheiden, wo ein Priel verläuft, wo eine Sandbank liegt oder wo nicht.“
Unstrittig ist ein Eingriff notwendig, wenn das Leben der Menschen hinter den Deichen gefährdet ist. Die „unzumutbare Beeinträchtigung herkömmlicher Nutzungen zu vermeiden“ wie sie das Nationalparkgesetz fordert, ist in der Vergangenheit aber häufiger Streitpunkt vor allem mit der Fischerei gewesen. Solange das Wattenmeer seine Größe behält und seine Funktionen wahrnehmen kann, auch wenn der Meeresspiegel steigt, sind aus Sicht des Naturschutzes keine Aktivitäten erforderlich. Das optimistische Klima-Szenario lässt uns dazu bis zum Jahr 2050 Zeit. Die oben ausführlich beschriebenen Folgen der „Weiter wie bisher“-Variante machen bereits deutlich vor diesem Datum ein Gegensteuern erforderlich.
Der Schlüssel für eine Anpassungs-Strategie an den Klimawandel für Küsten- und Naturschutz liegt in den kleinen Partikeln, die das Nordseewasser trüben und aus denen sich der Wattboden zusammensetzt, den Sedimenten.
Lagern sich bei Überflutungen genug davon ab, können Halligen mit dem Meeresspiegelanstieg mithalten oder die Erosion von Wattflächen kann ausgeglichen wirken. Studien der Universität Göttingen auf Hooge und Langeneß, an den auch die Schutzstation Wattenmeer mitgewirkt hat, haben ergeben, dass der Zuwachs auf den Halligen seit 1960 bei 1,5 bis 5 Millimetern pro Jahr liegt. Selbst das reicht aber langfristig nicht aus, um den seitdem beobachteten jährlichen Anstieg des Meeresspiegels von 4,5 Millimetern auszugleichen, geschweige denn die in 50 Jahren erwartete Zunahme.
Neue Konzepte erproben
Die „Strategie für das Wattenmeer 2100“ folgert, dass dem Watt neue Sedimente zugeführt werden müssen. Diese können aus Baumaßnahmen stammen wie der Erweiterung des Nord-Ostsee-Kanals oder jenseits der 15 m-Wasserlinie aus der Nordsee gewonnen werden. Die Entnahmegebiete müssen sehr sorgfältig ausgewählt werden, damit die ökologischen Folgen bei der Gewinnung kleiner sind als der Nutzen, den sie für das Wattenmeer haben. Insgesamt sind Maßnahmen zu bevorzugen, die bei Irrtümern keine irreparablen Schäden hinterlassen. Sandvorspülungen, wie sie bereits vor Sylt jahrzehntelang erfolgreich praktiziert werden, sind ein Beispiel dafür. Auf den Halligen sind häufigere Überflutungen gewünscht, damit das Hochwasser neue Sedimente heranträgt und die Eilande mit dem Meeresspiegelanstieg Schritt halten können. Das kann z.B. durch die Gestaltung der Deiche und Steuerung der Siele auf den Halligen erreicht werden.
Insgesamt geht es darum, neue Ideen und Konzepte zu erproben. Der WWF hat beispielsweise seine KliGlobWatt-Studie herausgebracht, die Klimaanpassungsmaßnahmen auf der gesamten Welt mit ihrer Relevanz für das Wattenmeer untersucht hat, so die riesige Sandvorspülung Zandmotor in den Niederlanden. Weitere Pilotprojekte sollen folgen. Forschungsbedarf gibt es auch bei den biologischen und geologischen Systemen. Wie wirken sich künftige Temperaturerhöhungen auf die Artzusammensetzung aus? Wie ändern sich Stoffumsetzungen bei verstärktem Algenwachstum? Wie können Veränderungen des Wattenmeer präziser im Computer modelliert werden?
Die Strategie für das Wattenmeer 2100 ist ein sehr erfreuliches Beispiel dafür, wie ehemalige Kontrahenten (Natur- und Küstenschutz) nun gemeinsam ein Ziel zum Wohl von Mensch und Natur verfolgen und Konzepte sogar mehrere Jahrzehnte im voraus aufstellen können. Die Ergebnisse werden in sämtliche langfristigen, küstenrelevanten Fachplanungen des Landes Schleswig-Holstein einfließen.
Unser Verhalten ist entscheidend
Bleibt ein weiteres Fazit: Viel Aufwand ist notwendig, wenn wir das Weltnaturerbe Wattenmeer in den kommenden Jahrzehnten erhalten wollen. Dabei haben wir es alle in der Hand, ob, wann und wie viel das sein muss: Durch unser Verhalten beeinflussen wir jetzt die Menge an Treibhausgasen, die in die Umwelt gelangen und deren Folgen in den nächsten Jahrzehnten im Wattenmeer ausgeglichen werden müssen.
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