Artenschwund im Wattenmeer
Rückblick auf frühere Vielfalt
Der zweite Beitrag unserer Reihe zum Nationalpark-Themenjahr "Vielfalt unter Wasser". Zurück zum ersten
Die Liste der Tierarten, die nach archäologischen Knochenfunden oder nach Beobachtungen aus jüngerer Zeit in Nordsee und Wattenmeer vorkamen, ist lang und teils verblüffend. Wer wüsste, dass Verwandte des kalifornischen Grauwals einst auch vor unseren Küsten lebten, ehe sie im Atlantik und in der Nordsee komplett ausgerottet wurden?
Wer kennt den Glattrochen, den mit bis zu zwei Metern größten Rochen kühler Meere? Um 1900 noch auf jedem Fischmarkt an der Wattenküste zu sehen, verschwand er durch Überfischung aus der gesamten Nordsee.
Insbesondere großen Arten, die eine lohnende Jagdbeute abgaben und leicht zu finden waren, sind durch menschlich Nachstellung eine nach der anderen aus dem Wattenmeer verschwunden. Noch bis 1920 lieferte der bis zu fünf Meter lange Europäische Stör den „Tönninger Kaviar“. Die erste Eiderabdämmung 1936 bei Neufeld verbaute den Weg in seine Laichgebiete. Intensive Befischung in der Untereider erledigte den Rest. Der drittletzte Stör wurde 1969 vor laufenden Kameras an Land gezogen, der vorletzte 1993 in der Bundestagskantine serviert, und der letzte schwamm von 1967 bis 2013 im Aquarium Helgoland, ehe er in eine Zuchtanlage bei Berlin umgesiedelt wurde.
Welche Rolle die Störe und Rochen, aber auch Haie und Wale im Ökosystem des Wattenmeeres spielten, ist heute kaum mehr zu ermitteln. Auf jeden Fall sehen wir aktuell nur noch einen Bruchteil der Lebensgemeinschaft, die natürlicherweise bis in die Priele und Flussmündungen des Wattenmeeres vorkam. Im Moseltal zeigt eine 10.000 Jahre alte Steinritzung in einer Schieferplatte den Kopf einer Kegelrobbe. Offenbar wanderten nicht nur Lachs und Stör durch das Deltagebiet den Rhein hinauf, sondern auch manche Meeressäuger.
Bis zur Abdämmung des Ijsselmeeres 1932 jagten in jedem Frühjahr Schwärme von Tümmlern die hier massenhaft laichenden Heringe. Auch bis zu drei Meter große Thunfische folgten im Sommer Makrelen und Heringen an die Nordseeküste, ehe sie selbst ab 1950 binnen weniger Jahre weggefischt wurden.
Bei den Vögeln des Wattenmeeres waren die Verluste ähnlich dramatisch: Krauskopfpelikan, Flamingo, Löffler und Silberreiher verschwanden durch Bejagung, wobei die beiden letzteren inzwischen zurückkehren. Raubseeschwalbe und Rosenseeschwalbe wurden Opfer des Eiersammelns und von Störungen, während Steinwälzer, Alpenstrandläufer und Kampfläufer durch Habitatzerstörung nahezu verschwanden. Im Mittelalter dürfte auch der Riesenalk gelegentlich vor Sylt oder Borkum aufgetaucht sein. Dieser Felsbrüter kam einst von Kanada und Island bis Frankreich und Helgoland vor. Da der Riesenalk flugunfähig war, sozusagen der Pinguin der Nordhalbkugel, war er dem Menschen ausgeliefert: am 3. Juni 1844 erschlugen isländische Trophäenjäger die letzten beiden Exemplare. Gäbe es die 80 Zentimeter hohen Vögel noch, wären sie sicher eine touristische Attraktion, nicht nur auf Helgoland.
Mit der Industrialisierung der Fischerei erreichte der Artenschwund im 20. Jahrhundert auch die Wirbellosen des Wattenmeeres: Mit motorisierten Kuttern wurde zwischen 1900 und 1930 die Auster in der Deutschen Bucht ausgerottet. Mit ihr verschwanden die Rossmuschel, verschiedene Blumentiere und der Bohrschwamm aus dem Watt.
In den 1960er Jahren beseitigten Krabbenfischer die „Sandkorallenriffe“, die der Borstenwurm Sabellaria aus Sand und Spucke in den Wattströmen geschaffen hatte. Sie wurden zwar 1992 formell unter Schutz gestellt. Die allgegenwärtige Fischerei mit Grundschleppnetzen nimmt ihnen aber jede Chance, sich zu regenerieren. Der Blick in die Geschichte lehrt, dass Großtiere im Meer und an Land vor menschlichen Übergriffen aktiv geschützt werden müssen. Manche Arten wie Kegelrobbe, Seeadler und Buckelwal erholen sich mittlerweile. Es wird Zeit, auch anderen Arten gezielt die Rückkehr zu ermöglichen – der Natur und dem Naturerlebnis zuliebe.