Rückkehr der Europäischen Auster ins Wattenmeer?

Neue Chance für eine (fast) verschwundene Art

Im Jahre 1890 schrieb Karl May:„Wie könnte die Bewohnerschaft Londons jährlich 110 Millionen Austern essen, wenn diese Muschel nicht so eine ungeheure Vermehrungsfähigkeit besäße?“ Leider irrte der Erfinder von „Winnetou“, und es erging der Europäischen Auster (Ostrea edulis) in der Nordsee wie den Bisons der amerikanischen Prärie: Die gnadenlose Übernutzung führte die einst massenhaft vorkommende Art an den Rand des Aussterbens. Im Eiswinter 1929 erfroren die letzten Austern im Wattenmeer und die Wiederbesiedlung blieb aus, weil die riesigen Austernbestände in der tieferen Nordsee zwischen Helgoland und Doggerbank abgefischt waren. Die Art überlebte an den Felsküsten Westeuropas und Südnorwegens sowie im dänischen Limfjord.

Als Ersatz für die Europäische Auster experimentierten Muschelzüchter mit Austernarten aus aller Welt. Durch die unkontrollierten Importe von Austern kam um 1978 die kalifornische Austernkrankheit Bonamia nach Europa und brachte für die Restbestände der heimischen Auster den Zusammenbruch um weitere 90 %. Wenn die Austern mit drei Jahren erstmals Eier legen, führt diese Anstrengung bei mit Bonamia infizierten Muscheln zum Tod. Natürlicherweise kann unsere Auster bis zu 40 Jahre alt werden und produziert pro Jahr knapp eine Millionen Larven. Ab 14° C Wassertemperatur erzeugen die Weibchen Eier, die sie mit dem eingestrudelten Sperma von bis zu 40 Männchen befruchten und in einem Brutsack zu Larven heranwachsen lassen. Die geschlüpften Larven schwimmen etwa 10 Tage im Meer umher und siedeln sich auf Kalk, am liebsten auf den Schalen anderer Austern an. Die Larve gibt einen winzigen Zementklecks auf die Unterlage, lässt sich mit der linken Schale hinein fallen und bleibt für den Rest ihres Lebens an diesem Ort. Die linke untere Schale wird im Lauf der Jahre bis zehn Zentimeter lang und bis zu zwei Zentimeter dick, indem die Auster immer neue Kalkschichten an der Innenseite ablagert. Die rechte Schale ist als platter Deckel in die flach schüsselförmige linke Schale eingepasst. Die lebende Auster im Inneren filtriert Plankton wie die meisten Muscheln, wobei sie auch sehr kleine Partikel wie Bakterien, Rädertierchen und winzigste Algenzellen als Nahrung nutzen kann. Auf der Außenseite der Austernschale siedelt eine Vielzahl anderer Meerestiere: Seepocken, Blumentiere, Schwämme und Polypenstöcke. An den damals enorm artenreichen Austernbänken bei Sylt entwickelte Karl Möbius daher um 1860 den Begriff der Biozönose, der Lebensgemeinschaft von Arten mit vielfältigen Beziehungen untereinander.

Um die Artenvielfalt der Austernbänke wieder in die Deutsche Bucht zurück zu holen, führt das Bundesamt für Naturschutz zusammen mit dem AWI Helgoland ein Wiederansiedlungsprojekt für die Europäische Auster durch. Auf Helgoland wird seit 2017 eine nicht mit Bonamia infizierte Austernzucht aufgebaut. 2018 haben die Jungaustern sich sehr gut entwickelt, so dass in den kommenden Jahren die ersten Auswilderungen in Offshore-Windparks der deutschen Nordsee erfolgen können. Dort sind die Austern vor Grundschleppnetzen geschützt und können hoffentlich neue Bänke bilden. Parallel findet auch in den Niederlanden eine Wiederansiedlung statt, dort allerdings mit aus Norwegen gekauften erwachsenen Austern. Wenn die Wiederansiedlung klappt, werden wir vielleicht in zehn Jahren die Europäische Auster wieder im Wattenmeer antreffen können –100 Jahre nach ihrem Verschwinden durch Überfischung.

Vielleicht können wir dann im Strandfunde-Internetportal BeachExploer.org auch verfolgen, wie nicht nur zahlreiche leere, alte Schalen, sondern auch wieder lebende Tiere der Europäischen Auster gemeldet werden.

Zum Nationalpark-Themenjahr "Muscheln & Schnecken" gibt es hier weitere Artikel und Beschreibungen der "Tiere des Monats".

 

Lebende Europäische Austern im Limfjord.
Eigentlich können Austern große, zusammenhängende Bänke bilden, die auch Lebensraum für viele andere Arten sind.
Verbreitungskarte der Europäischen Auster im "North Sea Piscatorial Atlas" von 1883. Schon damals waren im Wattenmeer die Bestände auf einen Bruchteil der ursprünglichen geschrumpft.
Am Boden der Nordsee gab es aber offenbar noch ein riesiges zusammenhängendes Verbreitungsgebiet, das in der Karte der Bodentypen neben "Sand", "Steinen", "Klei" als eigene Kategorie "Austern" verzeichnet war. Mit der zunehmenden Grundschleppnetzfischerei verschwanden aber bald auch diese Bestände.