Neue Arten finden leere Nischen

Nationalpark-Themenjahr Artenvielfalt

Eingeschleppte Arten können Ökosysteme verändern, heimische Arten ausrotten und erhebliche materielle Schäden anrichten. Doch so unberechenbar die negativen Folgen von Neobiota, also von angesiedelten fremdländischen Arten sind, gibt es doch manchmal auch positive Effekte. Sie gleichen die Schäden nicht aus, verdienen aber der Sachlichkeit halber eine Erwähnung.
Von der großen Zahl der mit Schiffen oder Muschelimporten aus aller Welt an die Küsten Europas verschleppten Arten schafft es nur ein kleiner Teil, sich bei uns anzusiedeln. Von 1000 ankommenden Arten können 100 hier überleben, zehn vermehren sich und eine wird durch Massenvermehrung als invasive Art zum Problem – ganz grob vereinfacht. Somit kommen auf jeden bösartigen Fremdling schätzungsweise etwa neun harmlose Arten, die sich längerfristig in unsere Ökosysteme einfügen und hier eine freie ökologische Nische besetzen. Von diesen „gutartigen“ Neobiota soll hier die Rede sein.

Hübsches Beispiel aus jüngster Zeit ist die Einwanderung der Manila-Teppichmuschel (Ruditapes philippinarum). Sie stammt aus Ostasien, ist als Seafood weltweit beliebt und schon in viele Küstengewässer eingeschleppt worden. Seit ihrem Erstfund im Wattenmeer bei Hallig Langeneß im Jahr 2016 hat sie sich über Föhr, Amrum, Sylt und Eiderstedt schon bis Rømø und nach Ostfriesland ausgebreitet. Es ist zu erwarten, dass diese Besiedlung weiter geht. Schlimm scheint das allerdings nicht zu sein: Vögel und Krebse fressen die Muscheln, die flach und leicht erreichbar unter der Wattoberfläche leben. Eine Krankheit hat bei der Art bereits im Sommer 2022 zu einem Massensterben geführt. Demzufolge wird sie wohl keine explosionsartige Vermehrung durchmachen, sondern sich als mittelhäufige Art im Wattenmeer halten. Ihre hübschen Schalen sind eine Freude für Muschelsammler:innen.

Noch unklar ist, wie sich der Orange Zipfelschwamm entwickeln mag, der seit gut zehn Jahren gelegentlich im Nordsylter Watt auftritt. Vorbehaltlich einer noch fehlenden DNA-Analyse handelt es sich wahrscheinlich um Hymeniacidon perlevis, eine weltweit als Neobiont bekannte Art. Sie stammt vermutlich aus dem Nordpazifik, scheint aber kaum irgendwo auf der Welt zu Massenvermehrungen zu neigen. Der Schwamm wird erforscht als Filter gegen Giftalgen, gegen Agrarpestizide und gegen Abwasserkeime, ist also aus menschlicher Sicht „nützlich“. Der Zipfelschwamm siedelt auf Muscheln, kann sich aber fladenförmig bis zu 30 Zentimeter auf dem Wattboden ausbreiten und sich mit einer Art Wurzelsystem im weichen Boden verankern. Vom einheimischen Brotkrumenschwamm unterscheidet er sich durch spitzere Zipfel auf der Oberfläche, an deren Enden seine Ausstromöffnungen sitzen. Professor Karsten Reise aus List beobachtet die langsame Ausbreitung der Art, hält sie aber für harmlos und für eine interessante Erweiterung des Artenspektrums im Wattenmeer.

Neben den zwei genannten Arten gibt es im Wattenmeer eine Vielzahl von Neobiota, die schadlos oder sogar positiv wirken. Amerikanische Schwertmuschel und Sandklaffmuschel, die besonders massenhaft auftreten, stabilisieren durch ihre Rolle als Vogelfutter sogar das Nahrungsnetz im Wattenmeer. Die wohl schon von den Wikingern aus Amerika eingeschleppte Klaffmuschel gilt für die meisten Menschen ohnehin als typische Art unserer Küste.
Wegen des Risikos unerwarteter Probleme sollten Neobiota niemals aktiv eingebracht werden und jede Einschleppung ist zu vermeiden. Doch viele der Ausländer im Watt integrieren sich gut und sind eine positive Bereicherung – wie im Leben an Land.

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie zum Nationalpark-Themenjahr „Vielfalt unter Wasser“. Weitere Beiträge sind 

Übrigens: Mit dem Strandfunde-Internetportal BeachExplorer können naturinteressierte Menschen auch mit Zufallsbeobachtungen dieser und weiterer Arten, dazu beitragen, die gerade ablaufenden Veränderungen der Lebensgemeinschaften im Wattenmeer genauer zu dokumentieren.

Zipfelschwamm auf dem Watt
Oranger Zipfelschwamm im Königshafen bei List.
Schalen von Manila-Teppichmuscheln
Vielfältig gefärbt sind die Manila-Teppichmuscheln. Manche sind einfarbig, andere hingegen kräftig gemustert.
20 Schalen der Manila-Teppichmuschel
Die Art ist mancherorts schon recht häufig. Im Watt vor Föhr waren diese Schalen auf 10 Quadratmetern schnell zusammengesammelt.
Dichter Spülsaum aus Schalen der Schwertmuschel
Um 1978 tauchten erstmals Amerikanische Schwertmuscheln bei uns auf. Heute liegen ihre Schalen manchmal massenweise auf dem Strand.
Silbermöwe mit Schwertmuschel im Schnabel
Möwen suchen nach Stürmen gezielt die Strände ab, um frisch freigespülte Schwertmuscheln zu ergattern.
Aus ihrer Röhre freigespülte Klaffmuschel
Sandklaffmuscheln haben, nachdem sie die Wikinger vor etwa Tausend Jahren aus Amerika mitbrachten, eine bis dahin nicht besetzte Nische im Wattenmeer gefunden - tiefer im Boden als alle anderen Muscheln.
Werden Sandklaffmuscheln freigespült, können sie sich nicht wieder eingraben. Bei Wattwanderungen muss man hier barfuß vorsichtig sein.